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Das Proletariat als Prozess – Revisited

Zu den Veranstaltungen am Freitag und Samstag könnt ihr hier noch einen Einstiegstext nachlesen.

– UPDATE 11.12.2012 – Im Artikel ist ein Mitschnitt von Freitagabend zu finden.

Noch immer ist die Kategorie „Proletariat“ ein Tabu. Haftet ihm doch in doppelter und dreifacher Hinsicht die Aura der bisher größten historischen Niederlage an:

– das schreckenerregende Bild der einst angekündigten Revolution zur Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft;

– das abstoßende Bild „des Proletariers“ von einst als Verkörperung sowohl des männlich-sexistischen „Arbeiters der Faust“ als auch des mitleidheischenden „armen und dummen Proleten“;

– d.h. in den deutschen Zuständen: die schreckenerregende Vorstellung vom revolutionären Proletariat ist in das Grauen angesichts der historischen Kollaboration der deutschen Arbeiter_innenklasse mit dem Nationalsozialismus übergegangen, ihre massenhafte Eingliederung in die Volksgemeinschaft – auch die der PostNS-Ära – steht vor Augen, womit auch das identitäre Bild vom Proleten schlechthin fixiert worden ist.

– das kompromittierende Bild einer parteilich-interessierten Ideologie des Staatsmonopols im Namen des Proletariats, welche in der nüchternen soziologischen Empirie der modernen, scheinbar „ent-ideologisierten“ universitären Wissenschaft schon längst nichts mehr zu suchen hat; bis hin zu dem Verdacht oder der These, dass die Vorstellung von „Klasse(nkampf)“ selber bloß ein „Fetisch“ sei.

Dieses überdeterminierte Tabu ist aber zugleich Ausdruck wie Besiegelung der historischen Niederlage, und beide sind nur aufzukündigen, indem wir sie erklären. Die Selbstaufklärung der Proletarisierten über ihre Niederlage, dass wir es noch immer und sogar zunehmend sind – nämlich existenziell abhängig vom Verkauf unserer Arbeitsvermögen als Ware auf dem Arbeitsmarkt –, sie wäre schon der erste und elementarste Schritt zur Bildung der Klasse an-und-für-sich und damit erst zur Selbstabschaffung als Klasse und der Klassengesellschaft überhaupt.

Dieser Prozess der Selbstbewusstmachung konnte niemals geradlinig-progressiv verlaufen, und mit dem historischen Versagen des Proletariats 1933 – 45 und danach ist er zutiefst gebrochen. Der Prozess scheint in seinen Momentaufnahmen als fixierten Bildern seit einem halben Jahrhundert zu Ende gekommen zu sein. Das Proletariat als Prozess der menschlich-gattungsmäßigen Emanzipation müsste jenseits seiner Bilder neu erfunden werden – „bei Strafe des Untergangs“ (Marx). Aber begreift der Begriff noch die historische Wahrheit dieser Kategorie?

Was schon Adorno in dieser Situation (nach „Auschwitz“) festhielt, war eine wissenschaftlich-kritische Antwort: Der Wahrheitsgehalt des Klassen-Begriffs „berichtigt sich ebenso an der fortschreitenden Erfahrung wie an der Theorie. Keine dieser Kategorien allein ist ein Universalschlüssel; die Momente sind ineinander und arbeiten kritisch aneinander sich ab. Irgendeines zu isolieren verblendet die Wissenschaft – selbst Teilstück des gesellschaftlichen Prozesses – mit dem Schein, den sie tilgen soll und tilgen kann bloß, wofern sie die dialektische Komplexität ihres Gegenstandes trifft durch die eigene.“ (Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute. 1968)

In unserem Vortrag und im daran anschließenden Kurs soll nun versucht werden, einen neuen Anfang zu machen mit der Zusammenfassung der historischen und alltäglichen fortschreitenden Erfahrung der Proletarität seit Marx‘ Ära einerseits, der progressiven und regressiven Theorie von ihr andererseits. Diese dialektische Komplexität möchten wir vereinfachend sichtbar machen entlang wenigen Momenten des Proletariatsprozesses, die analytisch zunächst zu isolieren sind:

– als Erfahrung des radikalen Enteignetseins von den gesellschaftlichen Produktions- und Lebensbedingungen – was sich ausdrückt in der politischen Ökonomie und ihrer radikalen Kritik;

– als Erfahrung der fortschreitenden Teilungen der gesellschaftlichen Arbeit und Sphären wie aber auch ihres erzwungenen Zusammenspiels – was sich ausdrückt in Entfremdungen der Proletarisierten von ihren individuellen Fähigkeiten und voneinander sowie von sich als „gesellschaftlicher Gesamtarbeiter_in“; in ihren Charaktermasken und „Rollen“, last but not least in ihren Geschlechtern als „gender“ wie als „sexes“ — sowie in der radikalen Kritik dieser Rollenteilungen und dieser Geschlechts-Performation, in der psychoanalytischen und queerfeministischen „Kritik der libidinösen Ökonomie“;

– als Erfahrung der Versklavung in der zunehmenden Freiheit: einhergehend mit der Vergesellschaftung in bürgerlich-kapitalistischer Form, in den Formen der Zwangsarbeit, der Staatlichkeit, der kinship-relations wie der traditionellen und neuen Familie und des social networking … — und all dies drückt sich aus in Theorien der Fremd- und Selbstregulierung der Subjekte einerseits und andererseits in communistischer Kritik an allem, was der materiell-zeitökonomisch disponiblen Entwicklungsmöglichkeit des total selbstbestimmten gesellschaftlichen Individuums heute immer noch im Wege steht.

Bei diesem Herausarbeiten der (in Wirklichkeit untrennbaren) Momente „Kritik der politischen Ökonomie“, „Kritik der libidinösen Ökonomie“ und „Kritik der Ideologie als Herrschaftskomplex der Klassengesellschaft“ werden entstellte und übergangene Ansätze kritischer Theorie des wissenschaftlichen Communismus vorgestellt und angerissen:

so die Marxsche Kritik des Patriarchats (Raya Dunayevskaya), der Religion und Manipulationsphilosophie (Georg Lukács) sowie der Staatlichkeit (G.I.C. und S.I.); endlich gilt es hinzuweisen auf die communistische Psychoanalyse des Fenichel-Kreises und auf die situationistische Spektakeltheorie: beide historisch bedeutenden Ansätze zur Analyse (und Therapeutik) des fixierten (Selbst-)Bildes vom Proletariat und seiner Verdrängung sind bis heute besonders verschüttet oder verzerrt. Beide haben vor allem begriffen, dass „die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse“ von Lohnarbeit/Kapital/Staat nicht allein das Werk massenhafter Lektüre des „Kapital“ Band 1 bis 3 … sein kann.

Zur Einleitung werden zuerst die entscheidendsten Ursprünge des Proletariatsbegriffs vor Augen geführt und die Marxsche Wendung zu seiner Verwissenschaftlichung auf der Basis materialistischer Analyse der Arbeit und ihres Doppelcharakters, ihrer möglichen Fetischformen im historischen Prozess der Proletarisierung aufgezeigt. Mit der Zuspitzung auf die „Antisemitismusfrage“ – wie konnte diese „verkehrte Revolution“ im Proletariatsprozess entstehen und alles bisher Erkämpfte in den geschichtlichen Abgrund reiten – soll zum Schluss das Problembewusstsein auf die aktuelle Situation gerichtet werden.

Es spricht und sucht die Diskussion Christopher Zwi, u.a. Mitherausgeber der Bände „Situationistische Revolutionstheorie“ (Schmetterling Verlag).

Fr. – 26. Oktober 2012 – 19.00 Uhr
Das Proletariat als Prozess – Revisited / Teil 1

Sa. – 27. Oktober 2012 – 11.00 bis ca. 14.00 Uhr
Das Proletariat als Prozess – Revisited / Teil 2

Der Eintritt zu den Veranstaltungen ist frei.

Ort: Kapitaldruck am Roßplatz 11

Der Mitschnitt vom Abend:

Keine Kommentare

  1. Gibt es eine Aufzeichnung vom Vortrag am Freitag?

  2. Ja, gibt es. Wird in der nächsten Woche im Netz veröffentlicht. Der Link wird hier veröffentlicht.

  3. Hat gedauert, aber nun ist der Mitschnitt vorhanden.